Die Blattern in der Bürgermeisterei Bettingen

Im Erleben der derzeitigen Corona-Pandemie wird mancher Leser des folgenden Textes zu der Erkenntnis gelangen, dass auch die fernere Geschichte mitunter sehr nahe an unsere Gegenwart heranreicht

 

Hans Karl König

Vor fast 200 Jahren:  Die Blattern in der Bürgermeisterei  Bettingen

Donnerstag, den 20. April 1826: Bürgermeister Johann Philipp Franz verfasst ein Schreiben an die Schöffen der Bürgermeisterei Bettingen. Die Schöffen sind die Vertreter der einzelnen Ortsgemeinden, aus denen die Bürgermeisterei mit ihren 3800 Einwohnern besteht: Bettingen, Außen, Gresaubach, Hüttersdorf, Buprich, Limbach und Dorf. Da sie auch die Mitglieder des Schöffenrates in der Bürgermeisterei stellen, sind sie gehalten, die Anordnungen des Bürgermeisters und die gemeinsamen Beschlüsse des Schöffenrates in ihren Heimatgemeinden umzusetzen. Der Grund dieses Schreibens ist ein Ausbruch der gefürchteten Pockenkrankheit in der Ortsgemeinde Limbach. (blau = Originaltext):

 „An die Schöffen der Bürgermeisterey

Sie wollen in ihrer Gemeinde bekannt machen und öffentlich in versammelter Gemeinde ohnfehlbar vorlesen: daß die natürlichen Blattern/Pünzeln in verschiedenen Grenz-Gemeinden ausgebrochen sind und sich daher ein jeder Einwohner hüten soll daß dieses Übel auch seine Haushaltung nicht treffen möge, denn in dem Hause wo diese Blattern ausbrechen werden strenge Polizei Maßnahmen ergriffen: das Haus wird bezeichnet daß die Blattern darin herrschen und es darf bei Polizeistrafe kein Nachbar oder sonst ein Einwohner in das Haus gehen wo solche herrschen auch die Hausbewohner dürfen in kein anderes Haus gehen. Die Gensdarmerie (= Polizei) bewacht die Häuser und verbalisiert (= ansprechen) gegen alle die dies übertretten…  [1] 

Die damals ‚natürliche Blattern‘ genannte Krankheit, heute spricht man von ‚Echten Pocken‘ (Variola major), war eine hochansteckende Viruskrankheit, beginnend mit starkem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sowie allgemeiner Schwäche. Dann entstanden im Gesicht, an Armen und Beinen stark juckende Hautauschläge, die zu Pusteln auswuchsen, mit Flüssigkeit oder Eiter gefüllt waren und nach der Abheilung hässliche Narben bildeten. Heilmittel gab und gibt es bis heute nicht, so dass ca. 20-30 Prozent der Erkrankten daran gestorben sind – wobei die Überlebenden gegen weitere Ansteckung immun waren.

Was es aber gab, war die Impfung mit den weniger gefährlichen Kuhpocken, damals auch Schutzpockenimpfung genannt. Diese konnte eine Immunität erzeugen und sie wurde, nach Überwindung etlicher Widerstände, auch in der Bürgermeisterei Bettingen angewandt. Die Impfung war seit 1815 im Königreich Preußen, zu dem die Bürgermeisterei gehörte, vorgeschrieben, doch es gab keine Zwangsimpfungen. Weil die Krankheit überwiegend Kinder befallen hat, wurden diese auch vorrangig geimpft. Eine Impfung war damals für viele Menschen ein unverständliches Verfahren, dem sie oft sehr abweisend gegenüberstanden. Zum anderen war sie kostenpflichtig, was zur Folge hatte, dass viele Einwohner sie nicht in Anspruch genommen haben, weil das nötige Geld in ihren  kinderreichen Familien gefehlt hat. Nun verweist Bürgermeister Franz erst einmal auf die drohenden Strafen:

…So ist nun mal das Gesetz. Ein jeder Einwohner kann sich vor dieser Strafe bewahren wenn er jetzt nächstens seine Kinder impfen lässt. Ich habe den Herrn Kreisphysikus (= Kreisarzt Frohberg in Saarlouis) beordert damit er kommen möge um zu impfen, damit die natürlichen Blattern nicht auch in hießiger Bürgermeisterey ausbrechen und die Einwohner in Strafen kommen sollen… [2]

Es ist ihm aber auch bewusst, dass Strafen nur eine begrenzte Wirkung haben, wenn es darum geht, die Vorbehalte der Bevölkerung abzubauen. So entschließt er sich, einen finanziellen Anreiz zu schaffen, damit die Eltern ihre Kinder zur Impfstation bringen.

…Sie (= gemeint sind die Schöffen) werden und dafür sorgen, und mit der Hebamme sprechen, daß am künftigen 3 ten May morgens um 7 Uhr zwey Kinder aus Limbach nach Bettingen in das Schulhaus gebracht werden um solche zu impfen und von denselben dann die anderen zu impfen. Die beiden Kinder werden umsonst geimpft, und die Mütter bekommen ihren Gang bezahlt; also sorgen sie mit der Hebamme dafür…  [3]

Was der Bürgermeister hier beschreibt, war ein Verfahren, das die schwierige Beschaffung der sehr seltenen Kuhpocken-Lymphe ersetzen konnte. Man hat aus den sich ausbildenden Pusteln schon geimpfter Kinder das Sekret entnommen und es dem nächsten Kind in den Oberarm eingeritzt.

Doch offenbar ist die Seuche in den Gemeinden schon weiter vorgedrungen, denn nur drei Tage später muss er dem Kreisarzt Frohberg in Saarlouis mitteilen, dass bei dem Peter Recktenwald in Außen die natürlichen Blattern ausgebrochen sind. [4] Bürgermeister Franz schreibt dann am folgenden Tag einen neuen Brief an die Schöffen, in dem er weitere Anordnungen erlässt:

„An die Schöffen der Bürgermeisterey

So wie ihnen bereits angezeigt worden, sind in der Gemeinde Außen die natürlichen Blattern ausgebrochen. Dies werden sie ohne Zweifel auch bekannt gemacht haben. Auf die von mir dem Herrn Kreisphysikus gemachte Anzeige, wurde daher verordnet, daß auf der Stelle, die in den Amtsblättern Nr.4, 13 und 19 vom Jahr 1816 polizey maßregeln ergriffen werden sollen, die ich schon gleich zwar ergriffen hatte. Sie haben sogleich die Gemeinde zu versammeln und den Einwohnern die drei Verfügungen, im Amtsblatt vorzulesen – dann ihnen zugleich zu sagen: daß alle Kinder welche an den natürlichen Blattern sterben, von Niemanden zum Begräbnis begleitet werden dürfen…  [5]

Offenbar gab es schon in den Amtsblättern veröffentlichte Anweisungen, hier Polizeimaßregeln  genannt, nach denen die Behörden in einer solchen Situation handeln sollten. Wie man aus dem letzten Halbsatz schließen kann, reut es ihn offenbar, dass er nicht schon im ersten Brief darauf hingewiesen hatte. Da er extra erwähnt, dass man in einer solchen Situation möglichst Kontakte vermeiden sollte, wie bei Beerdigungen, war wohl nicht überall bekannt. Allerdings wurden, durch die Versammlung der Einwohner, auch nicht erwünschte Kontakte herbeigeführt - aber es gab wohl keine andere Methode, um die Bevölkerung der Gemeinden umfassend zu informieren.

 … Dann hat die Gemeinde Bettingen am künftigen Mitwoch als dem 26 dieses (Monats) zwey bis drey Kinder Nachmittags um 1.Uhr hierher nach Außen zu bringen wo solche unentgeldlich geimpft werden – dafür wird die Gemeinde verantwortlich gemacht. Dann haben sie bey Impfung dieses die Schule bis auf weitere  Ordres zu schließen; und den Herrn Pastor zu ersuchen, nach Vorschrift im Amtsblatt Nr. 13 von 1816, zum Guten mit zu wirken. Endlich fordern sie alle Einwohner auf, auf der Stelle, alle ihre Kinder die noch nicht geimpft sind, oder wenn sie auch geimpft wurden aber nicht gezogen haben, Ihnen anzugeben, sie mögen so jung oder so alt seyen als sie wollen, darüber führen sie eine Liste und schicken solche ohnfehlbar in 4 Tagen bei Strafe aller Verantwortung ein.“ [6]

Jetzt wird, in Absprache mit dem Kreisarzt Frohberg, der Impftermin um eine Woche vorgezogen, die Schule wird geschlossen und die Autorität des Bettinger Pastors Nikolaus Pflüger eingesetzt, um die Familien zu überzeugen, ihre Kinder impfen zu lassen. Auch die Schöffen werden aufgefordert „…auf der Stelle…“, keine Zeit zu verlieren, den Druck auf die Einwohner zu erhöhen und Impflisten anzulegen, um eine Übersicht über den Schutzstatus der Gemeindemitglieder zu haben.

Noch am gleichen Tag informiert Bürgermeister Johann Philipp Franz den zuständigen Landrat des Landkreises Saarlouis, Joseph Jesse, über den Ausbruch der Blattern bei dem sechs Monate alten Kind des Hufschmiedes Peter Recktenwald in Außen. Von dieser Familie schreibt er, dass sie nicht widerspenstig waren, sondern alle ihre Kinder, auch das Jüngste, im letzten Jahr, einer Impfung unterzogen haben. Er berichtet ausführlich über die von ihm getroffenen Maßnahmen, die, wenn man es aus heutiger Sicht beurteilen möchte, für die damalige Zeit ein sehr schnelles Vorgehen gegen die weitere Ausbreitung der Seuche gewesen ist. Allerdings denkt er in dem Schreiben auch darüber nach, dass es besser gewesen wäre, wenn es eine Familie der Impfverweigerer getroffen hätte, die dann als abschreckendes Beispiel für Andere vorgezeigt werden könnte. Und doch hat er den Optimismus nicht verloren – im letzten Satz seines Schreibens sagt er:

„…Ich glaube aber, daß auf die hier nun ergriffenen Maßregeln der bekannte eigensinnige Charakter der Gemeindleuten von Bettingen, Außen und Limbach sich etwas nachgiebiger zeigen dürfte.“  [7]

Offenbar hat er den Charakter der „Gemeindleute“ richtig gedeutet, denn zwei Wochen später, am 12.Mai, kann er dem Landrat melden, dass die Schutzpockenimpfung in der Bürgermeisterei  “…gut von statten geht.“  [8]

Das erkrankte Kind des Hufschmiedes Peter Recktenwald und der Anna Baus, das jüngste von acht Kindern des Ehepaares, war die 1825 geborene Tochter Johannetta. Sie hat die Blatternkrankheit überlebt  - vielleicht aber auch, weil sie schon kurz nach ihrer Geburt geimpft wurde. Erwachsen geworden ist sie jedoch nicht - in ihrem zehnten Lebensjahr ist sie 1835 in Außen gestorben.

                                         

Quellen:

Archiv Historischer Verein Schmelz e.V. Gemeindeprotokollbuch der Bürgermeisterei Bettingen1826-1828; darin: [1 - 3] Vorgang Nr. 698 vom 23.04.1826,  [4] Vorgang Nr.700 vom 23.04.1826,  [5 - 6] Vorgang Nr.701 vom 24.04.1826,  [7] Vorgang Nr.703 vom 24.04.1826,  [8] Vorgang 715 vom 12.05.1824

Gerhard Storb, Einwohner der Bürgermeisterei Bettingen 1820-1900, Teil 2, Nr.4064

https://www.trillium.de/zeitschriften/trillium-immunologie/archiv/ausgaben-2019/heft-32019/aus-der-geschichte/pockenimpfung-in-deutschland-vor-und-nach-jenner.html

 

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